10 Jahre "Schreibende Frauen Lichtenberg"

2024 begehen die Schreibenden Frauen Lichtenberg (inzwischen mit männlicher Unterstützung) ihr 10jähriges Bestehen. Zehn Jahre sind eine lange Zeit, in der es auch in unserer Schreibgruppe Höhen und Tiefen, viel Schönes, aber auch zutiefst Trauriges gab.

 

Alles fing im Frühjahr 2014 an. Karin und ich besuchten an der VHS Lichtenberg am Roederplatz einen Wochenend-Schreibkurs im autobiografischen Schreiben. Karin kam aus Friedrichshagen, ich vom Fennpfuhl. „Mein Großvater war ein Kommunist“, sagte Karin. „Meine Großeltern auch“, sagte ich überrascht. Karin und ich wollten beide über unsere Großeltern schreiben. Als wir uns jedoch an dem Wochenende so richtig warm geschrieben hatten und die Gedanken nur so sprudelten, war der Schreibkurs auch schon vorbei. Natürlich waren wir noch lange nicht fertig, dafür aber gut motiviert. „Lena, wollen wir nicht eine Schreibgruppe gründen?“, fragte Karin. „Das wollte ich dich auch fragen“, lachte ich. Aus anderen Kursen kannte ich noch einige Frauen, die bestimmt gerne mitmachen würden.

 

So begab ich mich auf die Suche nach einem Raum, in dem wir uns regelmäßig zum Schreiben treffen könnten und kam zur WGLi. Damals befanden sich die Räume für die Interessengruppen noch in der Landsberger Allee. Ich klopfte an die Glastür. Eine freundliche Frau öffnete mir, stellte sich als Frau Sommerlatte vor, bat mich herein, hörte sich die Idee an und fand sie gut. „In der Rudolf-Seiffert- Str. 42 ist ein kleiner Raum mit einem großen Schreibtisch und Stühlen, Küchenzeile und WC. „Wenn der Ihnen zum Schreiben reicht, können Sie ihn gern für Ihre Schreibgruppe nutzen“, sagte sie. Ich war überglücklich und begann sogleich alle anzuschreiben, von denen ich dachte, sie würden gern mitmachen. Schnell waren mehrere Frauen zusammen. Freudig berichtete ich darüber Frau Sommerlatte.

 

„Ich würde Ihre Schreibgruppe gern in unser Programm aufnehmen. Wie wollen Sie sich nennen?“, fragte sie. Auf diese Frage war ich nicht vorbereitet und so spontan fiel mir nichts ein. „Was halten Sie von Schreibende Frauen Lichtenberg?“, schlug Frau Sommerlatte vor und ich nickte erleichtert.

 

Die „Schreibenden Frauen Lichtenberg“ waren geboren.

 

Am Montag, den 05. Mai 2014 fand unser erstes Treffen in dem kleinen Raum in der Rudolf-Seiffert-Str. 42 statt. Was waren wir damals für eine bunte Zusammensetzung:

 

Unsere älteste war Brigitta (58). Brigitta kam gebürtig aus Süddeutschland, rauchte viel und schrieb Krimis. Unsere jüngste war Nadine (22). Nadine wohnte in Lichtenberg bei der WGLi und schrieb einen Fantasy-Roman. Lustig war, dass ich Brigitta und Nadine beide bei zwei Erotik- Schreibkursen kennen gelernt hatte. Immer, wenn wir uns daran erinnerten, mussten wir kichern. Was probiert man nicht alles in seinem Leben…

 

Corinna (26) kam aus Hermsdorf und schrieb eine Fantasy-Geschichte über ein Maschinenmädchen. Tina (28) kam aus Alt Glienicke und schrieb auch Fantasy „Der Traum vom großen Paradies“. Sie zeichnete zudem noch Comics. Auch Corinna und Nadine hatten sich bereits schon in einem anderen Schreibkurs kennen gelernt.

 

In der Schreibgruppe tauschten wir uns über Neuigkeiten aus, schrieben zusammen, lasen unsere Texte vor, gaben uns gegenseitig Tipps. Wir waren eine sehr bunte Mischung, wie ein Kaleidoskop, jede von uns leuchtete in einer anderen Farbe. Hin und wieder stieß auch jemand anderes zu uns, blieb aber nicht lange, vielleicht stimmte die Chemie nicht. Inzwischen hatte die Quatschtrommel aufgemacht und Frau Sommerlatte fragte, ob wir nicht Lesungen machen möchten, zum Frauentag zum Beispiel oder zum Russischen Abend im Januar 2019, an dem es auch Pelmenis, Borschtsch und Blinis gab. Für musikalische Unterhaltung sorgte das Duo Faller. Die Quatschtrommel war voll, die Leute sehr zufrieden.

 

Auch mit dem Bezirksamt Lichtenberg entstand eine enge Zusammenarbeit. Ich durfte Frauen aus Lichtenberg interviewen. Der Fotoclub 1092 aus Hohenschönhausen machte dazu Portraits und es entstand eine wundervolle Ausstellung „Frauen und ihre Berufe im Portrait“. Ein Jahr später beauftragte mich der Senat von Berlin, die Interviews in einer Broschüre mit dem gleichen Titel zusammen zu stellen. Dafür wurden wir Schreibende Frauen sogar für den Frauenpreis Lichtenberg nominiert.

Eines Tages ging ich mit Tina und Nadine im Fennpfuhlpark spazieren. Es war Frühjahr und die Schwäne hatten Nachwuchs. Tina lief etwas voraus, machte Fotos und Nadine verlangsamte das Tempo. „Sage mal Lena, hättest du etwas dagegen, wenn bei uns in der Schreibgruppe ein junger Mann mitschreiben würde?“, fragte sie zögerlich. „Nein, natürlich nicht. Möchtest du jemanden mitbringen?“, lächelte ich. „Ja“, sagte sie und machte eine kleine Pause. „Mich...“.

 

Ich war sprachlos und lächelte sie nur an. „Ja, natürlich“, brachte ich gerade so heraus. So wie es Nadine sagte, hatte es irgendwie lustig geklungen. Aber es war ja eigentlich ein ernstes Thema. Nadine war inzwischen Ende Zwanzig. Seit ihrer Kindheit spürte sie, dass sie kein Mädchen sondern eigentlich ein Junge in dem Körper eines Mädchens war, was sie quälte, erzählte sie. Viele Jahre, voller Gedanken, Gespräche und Untersuchungen hatte sie hinter sich und nun stünde ihre Entscheidung fest. Aus Nadine sollte Marcus werden. Hormonspritzen, OP´s und danach hoffentlich ein Leben in einem Männerkörper, der zu ihrer Männerseele passte.

 

Dann kam irgendwann die Zeit, in der unsere jungen Frauen, Corinna, Nadine und Tina scheinbar unabhängig von einander begannen, Dystopien zu schreiben. Also Geschichten, die in der Zukunft spielten und keinen guten Ausgang hatten. So folgte auf „Der Traum vom großen Paradies“ nun „Die graue Stadt“ usw.. Ich fragte mich, warum? Sagt man Menschen, die schreiben, nicht nach, dass sie besonders sensibel sind, das Gras wachsen hören? Spürten die jungen Frauen vielleicht, was auf uns zukommt? Ich fragte sie danach, kann mich aber an keine schlüssige Antwort erinnern. Vielleicht schrieben sie diese Texte wirklich unbewusst. Dann kam eins nach dem anderen...

 

Als bei unserer Corinna die Mutter starb und kurz darauf ihr Freund sie verließ, bekam sie Brustkrebs. Damals war sie gerade mal Ende Zwanzig. Viele Jahre kämpfte sie gegen die Krankheit, kam immer seltener zu uns in die Schreibgruppe und seit Corona leider gar nicht mehr. Zu gefährlich war für sie der Weg mit den öffentlichen Verkehrsmitteln für ihr angeschlagenes Immunsystem. Unser Marcus besuchte sie oft und leistete ihr Beistand. In Gedanken waren wir alle bei ihr. Im November 2023 ist unsere Corinna leider verstorben.

 

Unsere Krimischreiberin Brigitta bekam ebenfalls Krebs und kam seit Corona auch nicht mehr in unsere Schreibgruppe. Brigitta ist leider im vergangenen Jahr auch an Krebs gestorben. Hormonkrebs, wie bei vielen Frauen zur Zeit. Sie habe damals schon mit 12 Jahren die Pille bekommen, hatte sie mir erzählt, weil ihre Regel so schmerzhaft verlief und die Ärzte ihr gegen die Regelschmerzen kurzerhand die Pille verschrieben. Mit 18 hatte sie das erste Mal Krebs bekommen. Damals hatte sie ihn überlebt. Jetzt hatte sie es leider nicht mehr geschafft.

 

Wenn ich daran denke, wie viele Frauen in meinem Bekanntenkreis Hormonkrebs haben, spüre ich Wut in mir aufsteigen und frage ich mich, warum auf den Verpackungen der Antibabypillen, keine Fotos von amputierten Brüsten und Geschwüren auf der Gebärmutter zu sehen sind, um den Frauen bewusst zu machen, was sie da Tag für Tag zu sich nehmen.

 

Spätestens seit Corona blieb auch Karin bei sich in Friedrichshagen. Zum Glück nicht aus gesundheitlichen Gründen. Karin arbeitete nun in Homeoffice und der wöchentliche Weg bis zum Fennpfuhl wurde ihr doch auf die Dauer neben der Arbeit zu beschwerlich. Aber zu unseren Lesungen und Veranstaltungen kommt Karin meist und wir freuen uns, wenn sie dabei ist und uns unterstützt.

 

Auch unsere Comic-Zeichnerin Tina verkündete eines Tages, sie wolle wegen einer Herzensangelegenheit nun eigene Wege gehen. So schmolz unsere Schreibgruppe dahin und hätte leider bald nur noch aus Marcus und mir bestanden. Traurig schauten wir beide die leeren Stühle neben uns an, erinnerten uns an die schönen Zeiten, als wir hier in dem kleinen Raum in der Rudolf-Seiffert-Str. 42 alle gemeinsam geschrieben hatten und noch die Stimmen von Karin, Corinna, Tina und Brigitta erklangen. Sollte das nun das Ende der Schreibenden Frauen Lichtenberg sein? Das wäre sehr schade, dachte ich. So schwer es manchmal auch ist, aber das Leben muss weiter gehen, sagte ich mir und begab mich auf die Suche.

 

Hannelore traf ich eigentlich schon vor vielen Jahren an der VHS am Schäfersee in Reinickendorf. Unser Kurs hieß „Eine Woche mit dem ich auf du und du“. Damals brachten wir alte Fotos mit und versanken gemeinsam in unsere Kindheitserinnerungen. Es war eine sehr emotionale, intensive Woche. Und nun fragte ich sie: „Möchtest du vielleicht in unsere Schreibgruppe kommen?“ und Hannelore kam. Hannelore kommt aus Mahlsdorf und ist im verdienten Ruhestand. Sie recherchiert gerne und hatte schon eine interessante Broschüre über die Theodorstraße und frühere Gärtnereien in Berlin Mahlsdorf veröffentlicht.

 

Matthias und Christiane lernte ich an der VHS Lichtenberg am Roederplatz kennen. Der Kurs hieß „In´s Auge“. Zu Hause geschriebene Texte wurden hier vorgelesen und besprochen. Natürlich wurde auch Kritik geübt. Die Kursbezeichnung schreckte mich zunächst ein wenig ab. „In´s Auge“ hörte sich ziemlich schmerzhaft an. Kritiküben in einer Schreibgruppe ist immer ein sehr sensibles Thema und die wenigsten möchten sie direkt „In´s Auge“ bekommen. Aber irgendwann wagte ich mich doch dahin und es war gar nicht so schlimm. Da dieser Kurs in den Sommerferien pausierte, lud ich Matthias und Christiane zur Überbrückung kurzerhand zu uns in die Schreibgruppe ein. Ich gestehe, den Namen „Schreibende Frauen Lichtenberg“ erwähnte ich erst mal nicht, um Matthias nicht zu irritieren. Sie nahmen meine Einladung an. Matthias ist uns bis heute treu geblieben.

 

Unser Matthias ist Mitte vierzig, berufstätig und wohnt in Schöneweide. Aber montags ist er immer pünktlich um 16.30 Uhr in der Quatschtrommel zum Schreiben. Matthias schreibt nicht nur witzige Alltagsgeschichten über den Radfahrer Sven, spielt Gitarre und singt selbst komponierte Songs. Neuerdings schreibt Matthias auch “Käfergedichte“. Lustig und nachdenklich sind sie, manchmal auch ein wenig bissig, aber nur ein wenig. „Geschichten mit einem Augenzwinkern“ könnte man sie nennen. Matthias begleitet uns auch musikalisch bei unseren Lesungen. Eigentlich ist es fast zu schade, dass er dadurch kaum zum Vorlesen seiner eigenen Geschichten kommt, die die Zuhörer bestimmt zum Schmunzeln bringen würden.

 

Astrid habe ich erst vor Kurzem bei dem Kurs „Geschichten schreiben und erzählen mit Lea Streisand“ an der VHS in Kreuzberg kennen gelernt. Wir saßen neben einander und ich war fasziniert davon, wie Astrid in einer Schreibübung, an der wir uns paarweise ausprobieren sollten, m e i n e n Unmut über das chronische Zuspätkommen mancher Menschen auf eine wunderbar leichte und zugleich komische Weise in Worte fassen konnte. Nicht viele Menschen haben diese Begabung, sich in andere so hinein zu versetzen, dachte ich. In dem Jahr bereiteten wir Schreibenden Frauen Lichtenberg uns gerade auf das 50jährige Fennpfuhl-Jubiläum vor und schrieben mit an dem Buch „50 Gesichter – 50 Geschichten aus dem Fennpfuhl“. Ich konnte mir gut vorstellen, dass Astrid viel Freude dabei hätte, andere Menschen zu interviewen und ihre Geschichten aufzuschreiben. „Hast du vielleicht Lust, dabei mitzumachen?“, fragte ich Astrid und freute mich, als Astrid zusagte. Sechs der fünfzig Persönlichkeiten vom Fennpfuhl hat unsere Astrid interviewt und ihre interessanten Lebensgeschichten aufgeschrieben. Astrid ist Mitte Vierzig und wohnt in Neuenhagen. Zum Glück arbeitet sie hier am Storkower Bogen. So kann sie nach der Arbeit noch zu uns in die Quatschtrommel kommen und Geschichten über ihren Jugendfreund Simon und schöne Gedichte schreiben. Astrid hat zwei Kinder und ist jetzt mit einer Frau verheiratet.

©Jelena Gansdorf_Schreibende Frauen Lichtenberg November 2023

So leben die Schreibenden Frauen Lichtenberg weiter. Inzwischen haben wir den kleinen Raum in der Rudolf-Seiffert-Str. 42 an die WGLi-Schlichtungskommission abgetreten und treffen uns regelmäßig in dem Nachbarschaftstreff „Quatschtrommel“. Im Sommer sitzen wir auf der großen Terrasse und können beim Schreiben den Kleingärtnern beim Arbeiten und den Kindern beim Planschen zuschauen, die bunten Blumen wachsen und Äpfel und Kirschen reifen sehen. In den kälteren Monaten nutzen wir die warmen Innenräume.

 

Vor jedem Montagstreffen verständigen wir uns immer per mail, wer zur Schreibgruppe kommt. Wir treffen uns, wenn wir mindestens zu dritt sind. Interessanterweise verändern sich je nach Zusammensetzung der Gruppe auch die Gruppendynamik, die Stimmungen und Texte. Jede und jeder von uns bringt etwas ganz Besonderes, Einmaliges mit in die Gruppe. Am schönsten ist es, wenn alle da sind, um den großen Tisch sitzen und schreiben. Die Gesichter sind in die eigenen Geschichten vertieft, die Gedanken und Energien fließen durch den Raum. Anschließend wird vorgelesen, zugehört und es werden Anregungen gegeben.

 

Unsere regelmäßigen Treffen montags in der Schreibgruppe, die vertraute Atmosphäre, das gemeinsame Erzählen, die anschließende Stunde stillen und konzentrierten Schreibens und das Vorlesen in der Gruppe ist uns so zu einer sehr lieben Gewohnheit geworden, die niemand von uns missen möchten möchten. So hatten wir uns in der Corona-Zeit, als Treffen in geschlossenen Räumen verboten waren, sogar regelmäßig am Fennpfuhl auf einer Parkbank getroffen. Manchmal mussten wir unsere Bank eine Stunde vorher reservieren und gegen andere verteidigen. Ja, die Bänke waren damals sehr begehrt.

 

Aber unsere Montagstreffen sind noch nicht alles, was wir zusammen machen. Im Sommer treffen wir uns auch mal zu einem Schreibwochenende in der Märkischen Schweiz, wo wir lustige Schreibspiele machen oder baden gehen. Im Herbst veranstalten wir in der Quatschtrommel Workshops „Schreibende Frauen treffen Freunde“. Es wird gemeinsam gegessen und getrunken, es werden Geschichten vorgelesen und gesungen. Auch bei der 65-Jahrfeier der WGLi vor fünf Jahren waren wir mit einem Stand vertreten. Wir schreiben Geschichten, führen musikalische Lesungen durch und veranstalten Ausstellungen.

 

Ich persönlich habe in den Jahren viel über meine Großeltern Else und Erwin Gansdorf geschrieben. Das Weiterleben der Erinnerung an sie war mir sehr wichtig. Mit großartiger Unterstützung meiner lieben Schreibgruppe und auch des Kiezfonds Lichtenberg konnte ich eine Ausstellung machen und eine Erinnerungsbroschüre über das Leben meiner Großeltern herausgeben. Sogar eine Gedenkbank wurde im Fennpfuhlpark für sie aufgestellt. Diese Gedenkbank steht natürlich stellvertretend für viele andere mutige Menschen. Ich bin so dankbar dafür.

 

Seitdem Nadine zu Marcus wurde und auch noch Matthias in unserer Schreibgruppe ist, nennen wir uns nun „Schreibende Frauen Lichtenberg mit männlicher Unterstützung“. 

 

Natürlich sind bei uns grundsätzlich alle schreibenden Menschen willkommen.

 

Wir sind sehr dankbar, dass wir die Räume der WGLi für unsere wöchentlichen Treffen nutzen dürfen und bleiben neugierig, was das Leben noch für uns bereithält.

 

Jelena Gansdorf,

Gründerin der Gruppe „Schreibende Frauen Lichtenberg“                                                                                März 2024

 

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