Deutschland Januar 2020
Rechte von Frauen und Mädchen
und Rechte von Behinderten
Momentaufnahme
Sie kommt aus Syrien und trägt den Namen einer indischen Gottheit, aber das weiß ich noch nicht, als ich die junge Frau mit Blindenstock an der großen Straße gegenüber stehen sehe. Sie scheint unruhig zu sein, traut sich nicht rüber. Ein junges Pärchen läuft an ihr vorbei. Sie wendet sich zu ihnen, aber sie laufen weiter, sind zu sehr in ihr Gespräch vertieft. Die junge Frau mit dem Blindenstock trägt ein Kopftuch.
Ich überquere die Straße, sehe, wie sie mich wahrzunehmen scheint und zögert. „Wollen Sie auf die andere Straßenseite?“, frage ich. „Darf ich Ihnen helfen?“
„Ja. Danke“, antwortet sie und lächelt erleichtert. Sie trägt eine Zahnspange. Wie alt mag sie sein, denke ich, fünfzehn, vielleicht sechzehn?
„Ich bin in die falsche Straßenbahn eingestiegen“, sagt sie in noch nicht ganz perfektem deutsch, „jetzt muss ich wieder eine Station zurückfahren und in die richtige einsteigen. Aber die Straße ist hier so groß, so viele Autos und noch Straßenbahngleise. Ich habe Angst, ich kann nur fünf Prozent sehen.“
Wir laufen rüber. Sie läuft schnell neben mir, ihr langer weißer Stock tastet geräuschvoll die Straße ab. Sie stolpert über kleine Unebenheiten, fängt sich sofort, läuft schnell weiter. So, als hätte sie keine andere Chance, mitzukommen, so, als könnte sie für immer allein zurückbleiben, wenn sie nicht schnell genug laufen würde. Ich hake sie kurzerhand unter den Arm ein. Sie lächelt dankbar.
Jeden Tag fahre sie von einem Ende der Stadt zum anderen mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zu ihrer Schule für Sehbehinderte. Anderthalb Stunden hin und anderthalb Stunden wieder zurück. Ich äußere meine Verwunderung. Eine andere Möglichkeit gäbe es nicht, sagt sie. An der Haltestelle angekommen, bedankt sie sich, wirkt verlegen und fragt mich schließlich, ob sie meine Telefonnummer haben könne. „Aber bitte nicht falsch verstehen“, sagt sie, „ich glaube, Sie sind ein guter Mensch.“
So bleiben wir beide in Kontakt, schicken uns Grüße. Einige Tage später ruft sie mich an. Sie weint. „Ich habe so viele Probleme“, schluchzt sie. „Jetzt in der Straßenbahn, da hat ein Mann seinen Hund zu mir geschoben. Ich habe große Angst vor Hunden. Aber der Mann hat immer weiter gemacht und er hat gelacht. Er dachte, ich bin blind und kann das nicht sehen, aber ich kann etwas sehen.“
Ich versuche, sie zu trösten, frage, ob die anderen Fahrgäste nichts gesehen haben. „Doch, die anderen Fahrgäste haben das gesehen und sie haben auch gelacht. Ich hatte solche Angst. Warum hat das der Mann gemacht?“
So etwas passiere ihr oft, sagt sie. „Einmal bin ich Fahrstuhl gefahren und jemand hatte mich an den Schultern genommen und aus dem Fahrstuhl raus geschoben. `Das hier ist nicht für Euch. Du kannst Treppe laufen`, sagte man mir.
Meiner Mutter kann ich das nicht erzählen“, sagt sie. „Sonst wird sie noch trauriger und dann wird alles noch schlimmer. Ich weine auf der Toilette, damit meine Mutter das nicht sieht ...“
Das Mädchen fragt, ob ich sie im Heim besuchen kann, sie möchte gern mit mir sprechen. Ich sage zu.
Ich melde mich unten bei der Security an, erfahre die Zimmernummer, laufe zur Treppe. In dem großen Gebäude ist es ungewöhnlich still. Obwohl mehr als die Hälfte der Bewohner Kinder sind, kann ich keinen Laut hören. Die Gänge sind schmal, links und rechts Türen, kaltes Licht, steril. Kein Geruch nach einheimischen Gewürzen oder Ähnlichem, fast so, als wäre das Haus gar nicht bewohnt, als hätte es noch keine Seele. Niemand begegnet mir auf dem Weg. Neben der Zimmertür ein Schild: 15,46 m² , weiter unten der Name.
Die Mutter lächelt, ich solle die Schuhe nicht ausziehen. Sie wundern sich, dass ich es doch tue. „Meine Betreuerin zieht auch keine Schuhe aus“, sagt das Mädchen. Mutter und Tochter laufen mit nackten Füßen auf Linoleum. Im Zimmer ist eine kleine Küchenzeile, ein Tisch, ein Schrank, ein Bett und eine Matratze unten am Fenster, vermutlich schläft dort das Mädchen. Die Mutter gibt mir einen Stuhl, stellt etwas zu trinken und gesalzene Melonenkerne hin. Ich weiß nicht, wie man Melonenkerne isst. Mutter und Tochter lachen: „So geht es uns auch oft mit deutschem Essen“, sagt das Mädchen. Sie zeigen mir, wie man Melonenkerne knackt.
„Wir wollten nicht weg aus Syrien“, erzählt das Mädchen. „Dort hatte ich eine gute Schule und alle waren nett. Aber dann kam der Krieg und alles ging kaputt. Ich bin mit meiner Mutter alleine hier her gekommen. Aber meine Mutter spricht kein Deutsch. Es geht ihr sehr schlecht. Alle anderen aus unserer Familie sind in Syrien geblieben. Meine Mutter und ich sind über das Meer gekommen und dann über die Berge. Ich kann schlecht sehen. Ein Mann hat mich immer am Arm festgehalten und wir sind gelaufen, sehr schnell gelaufen. Wenn er gefallen wäre …, ich wäre mit ihm den Berg runter gefallen. Ich wäre tot ...“, sie hält inne und sackt ein Stück weit auf ihrem Stuhl zusammen.
„Aber jetzt in Deutschland, ich habe auch so viele Probleme. Ich habe manchmal keine Kraft mehr, alles ist so schwierig.“ Ich blicke zur Mutter. Sie sitzt auf dem Bett und ist in ihr Smartphone versunken, sie versteht nicht, was ihre Tochter gerade erzählt. Draußen hinter dem Fenster der graue Januar.
„Ich habe große Probleme mit der Schule. Die Lehrerinnen sagen mir immer ´Du schaffst das nicht, du kannst das nicht“, sie geben mir keinen Mut. Warum sagen sie das? Das ist so schlimm. Ich lerne fleißig und ich mache alles, alles, was möglich ist, ich will es schaffen…
Ich möchte später am Computer arbeiten, ich kann schon deutsch lesen und schreiben, das habe ich alles hier gelernt, aber sie sagen, ich soll putzen gehen oder in die Küche kochen …, das ist so schwer für mich. Sie sind so stur. Das macht mich so kaputt.“ Ich lasse das Mädchen erzählen, stelle nur manchmal eine Frage.
„Diese Schule, sie ist so weit. Aber ich fahre mit der Bahn und nicht mit dem Schulbus. Der Busfahrer ...“, das Mädchen schaut runter, spricht nicht weiter. Ich hake nach, frage, was mit ihm ist.
„Dieser Busfahrer …, er kommt immer zu mir oder zu meiner Freundin und sagt `Komm, zeig mir, was du unter deinem Kopftuch hast. Komm ich will deine Haare sehen.` Und er fässt uns an. Ich dachte, in Deutschland darf man das nicht machen. Dann sagt er zu uns `Ein Hund ist besser, als eine Frau. Ein Hund macht alles, was man ihm sagt.` Ich kann nicht mit diesem Busfahrer fahren. Ich habe darüber schon erzählt, aber es hat keinen Sinn, sie wollen das nicht hören. Ist egal, ich möchte auch nicht, dass der Mann seine Arbeit verliert, deswegen sage ich nichts mehr. Der Mann fährt weiter den Schulbus.“
Das Mädchen erzählt an diesem Tag sehr viel. Als ich gehe, spüre ich ein tiefes Schamgefühl und eine Wut in mir. Ich schäme mich für diesen Busfahrer, für diese Lehrerinnen, für den Mann mit dem Hund in der Bahn, die anderen Fahrgäste drumherum und für die Menschen im Fahrstuhl, die das fast blinde Mädchen hinaus geschoben hatten und ich bin wütend, weil die Rechte von Frauen und Mädchen und auch die Rechte von Menschen mit Behinderung in unserem Land offensichtlich immer noch oder schon wieder (?) massiv mit Füßen getreten werden.
Anmerkung: Zum Schutz des Mädchens wurden bewusst keine konkreten Namen und Orte genannt.