Jelena

Am Ural

Gleich hinter unserer Scheune ist ein Feld, das bis zum Horizont reicht. Im Sommer flirrt über den Disteln, dem Wermut und den Kornblumen vor Hitze die Luft, ich höre die Grillen und die Grashüpfer zirpen und mittags singt hoch am Himmel die Lerche. Im Frühjahr und im Herbst fahren wir auf unser Kartoffelfeld, das ist nicht weit von unserem Haus entfernt. Im Frühjahr werden die Kartoffeln eingepflanzt. Meine Oma sagt, dass man eine Knolle in der Mitte durchschneiden kann, oder wenn sie sehr groß ist, sogar in vier Teile teilen kann. Diese Teile versenkt man in die Erde und aus jedem Kartoffelstückchen wächst dann eine Pflanze, an deren Wurzeln ganz viele neue Kartoffeln heranreifen, die man später ernten kann.

 

Ich glaube, meine Oma hat großes Heimweh. Ihre ganze Familie ist ganz weit weg. Manchmal erzählt sie von ihrer schönen Kindheit im Bergischen Land, dann wird sie ganz traurig und singt Lieder wie die „Lorelei“ oder „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten“ und „Da ist meine Heimat mein Bergisches Land“. Meine Oma kommt aus Deutschland, so wie mein Opa. Deutschland ist ganz weit weg.

Beton

Alles war anders für sie. Die Wohnung, in die sie mit ihren Eltern und ihrem Bruder gezogen war, lag im 10. Stock eines Hochhauses. Vom Balkon konnte sie bis zum Fernsehturm sehen. Am besten aber fand sie die Badewanne. Stundenlang konnte sie darin verbringen, im warmen Wasser untertauchen, plantschen, mit dem Schaum spielen. Vor dem Aufzug hatte sie ein wenig Angst. Er fuhr nur bis zum 9. Stock, den letzten Stock musste man laufen, doch meistens drückte sie nicht gleich die 9, wenn sie nach Hause wollte, sondern immer nur ein bis zwei Stockwerke, um sicher zu gehen, dass er auch anhält und sie raus lässt. 

Auch die Haussprechanlage war neu für sie. Manchmal drückte sie den Knopf „Hören“ und lauschte einfach den Autogeräuschen zu. Die Straße, auf der die Autos fuhren, der große Platz, auf dem die Kaufhalle und der Jugendclub standen, selbst ihre Schule, alles war aus Beton neu und kalt. Sogar die Luft schien nach Beton zu schmecken.

 

Sie vermisste den Garten mit den Apfelbäumen vor dem Fenster, den Geruch nach frisch gesägtem Holz, das Blöken der Schafe im Stall. Auch die gleißende Sommersonne der Steppe und die vor Trockenheit zerrissene Erde, ihre Kindheit, ihre Vergangenheit, ihr altes Leben, alles, was sie kannte schien so unendlich weit weg. Dreitausend Kilometer. Drei Tage Zugfahrt.

Dschelena

„Wie heisst Du noch mal?“,  fragt Klaus, „Dschelena?“

Klaus geht auch in die vierte Klasse, wie sie.

„Nein, Jelena“, antwortet sie, Dschelena klingt total doof.

„Ja, sage ich doch, Dschelena“, sagt Klaus und lächelt sie frech an. Wenn er sie so anlächelt, ist es ihr fast egal, wie er sie nennt. 

„Du kannst auch Lena, sagen, das ist einfacher“, versucht sie es noch einmal.

„Aber warum soll ich denn Lena zu dir sagen, wenn du doch in Wirklichkeit Dschelena heisst?! Dschelena gefällt mir viel besser als Lena!“

Seitdem nannte sie Klaus Dschelena. Auch als sie sich nach dreißig Jahren zum Klassentreffen sahen, sagte Klaus lächelnd: „Na, D sche le na, wie geht es Dir denn so?“

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